„Uns geht's ja noch gold“

Das Rostocker digitale Tagebuch

W a h r n e h m u n g e n

Der November hat mich fest im Griff.

Als ich aus dem Haus trete, hüllt er mich in sein diffuses Licht ein und lässt die feuchte Kälte am Körper hochkriechen. Die Tage sind inzwischen kurz, die Abende werden immer länger. Genauso wie seit gestern die Schlangen an den Teststationen, die den notwendigen Test für das 3G und 2G+ Leben ausstellen.

Ganz leise hat sich das nächste Virus mit dem Namen OMIKRON (eine Erweiterung des griechischen Buchstaben OMEGA) aus Afrika angeschlichen, noch besorgniserregender und mit noch mehr Mutationen als Delta. Diese ‚Schlangen‘ an den Testzentren werden uns also die nächste Zeit begleiten.

Mit dem Rad fahre ich gen Küstenwald, parke es auf der Promenade und wandere in den Wald. Um die Taille habe ich meinen PRO-X WALKER, eine ‚Mutation‘ der Nordic-Walking-Stöcke und beginne mit der Armarbeit. Das Laub raschelt, leicht modriger Geruch, ansonsten ist es still. In der Ferne rauscht das Meer, idyllisch.

Interessant, was ich alles wahrnehme, mit welchen Sinnen und wie ich darüber in meinem Inneren kommuniziere, sozusagen meine Welt in einem inneren Gespräch aufrechterhalte. Die Welt ist so und so, nur weil ich mir sage, dass sie so und so ist. Wenn ich mein Selbstgespräch unterbreche, ist die Welt so, wie sie sein sollte.

Klingt etwas kompliziert.

Natürlich nehme ich nicht alle Reize wahr, sondern meist nur die, die eine Empfindung hervorrufen.

Ich laufe einen der Strandzugänge hinab zum Meer. Nun kommen der Geruch von Salzwasser und Tang und das Geräusch der Wellen hinzu. Auch das Laufen durch Sand und Steine erzeugt ein Geräusch.

Eine Rose liegt am Strand, angeschwemmt von einer Seebestattung. Meist finde ich Strelitzien, seltener Rosen. Mein Kopfkino arbeitet sofort.

Ich vermute, dass ein(e) Ehepartner(in) verstorben ist, denn es darf nur eine Blume zum Abschied in das Meer geworfen werden.

Einer der mutigen FKK-Winterbader steigt aus den Fluten und seine zwei Hunde springen an ihm hoch. Ich beginne etwas zu frieren. Nein, lacht er, als ich frage, ob die Hunde noch baden gehen. Sie springen an mir hoch und ich halte ganz still. Schnell sind sie wieder weg, ich bin uninteressant für sie. 

 

Uninteressant …

Da fällt mir eine Begegnung ein.

Im November vor einigen Jahren besuchten wir Weimar. Auch damals war es neblig und kalt. Dadurch, dass es viel zu sehen gab, wir Theaterkarten hatten, nahmen wir es weniger wahr. Nach einem Stadtrundgang suchten wir ein Café, um uns aufzuwärmen und etwas zu essen. Die Suche gestaltete sich schwierig und letztlich fanden wir eine Bäckerei, wo schon mehrere Leute anstanden. Der Gatte verschwand, um noch zu fotografieren und ich stand allein an. Ein mittelalter Mann mit Pudelmütze, die seine längeren, lockigen Haar nur knapp bedeckte, stand vor mir und wir kamen relativ schnell ins Gespräch. Ob ich auch nur zu Gast sei in der Stadt, ja, bin ich, was ich schon alles gesehen habe und wo ich unbedingt noch hinsollte, das Gespräch plätscherte dahin. Ich fühlte mich wohl und nahm an, er auch. Dann standen wir im Innenraum der Bäckerei, schauten in die Vitrine und nach freien Plätzen. Wir lachten viel.

Kurz bevor ich dran war, nahm ich meine Mütze ab und wuschelte durch die Haare.

Der Mann schaute mich an, fast erschrocken und drehte sich weg. Wir sprachen kein Wort mehr.

Seine Wahrnehmung hatte ihn getäuscht.

Nein, diese Frau war definitiv zu alt. Wofür auch immer!

Was dachte ich in diesem Moment? 

Ich dachte, die einfache Creme für das Gesicht reicht völlig aus, macht jünger, vielleicht künftig einfach die Mütze aufbehalten?

Irgendwie neigen wir alle dazu, uns unsere Welt - manchmal - schönzureden.

Eine Kooperationsarbeit des Literaturhaus Rostock e.V. mit dem Kempowski Archiv Rostock e.V.