„Uns geht's ja noch gold“

Das Rostocker digitale Tagebuch

Solche Tage und die Resilienz

Die Pandemie hat uns nach wie vor im Griff.
Man spricht davon, dass der Frühling Erleichterungen bringen wird. Wettermässig auf jeden Fall. In einer Seitenstraße fand ich Winterlinge. Die ersten Vorboten einer angenehmeren Zeit?
Immer wieder lese ich, dass jetzt Resilienz gefragt sei. Dabei handelt es sich um einen Begriff aus der Psychologie, der die Fähigkeit beschreibt, u.a. Krisen zu meistern, ohne sich davon dauerhaft unterkriegen zu lassen. Statt ohnmächtig und hilflos das eigene Leben zu betrachten und in Selbstmitleid zu versinken, verhilft Resilienz dazu, weiterzumachen und schwierige Zeiten zu überwinden.

Ich gehöre zur großen Gruppe der Rentner, für die, Gesundheit und materielle Sicherheit vorausgesetzt, die Pandemie leichter zu ertragen sein soll. Der Genuss des natürlichen Erwachens lässt die Tage meist stressfrei beginnen. Dann beginnt der Alltag, der gestaltet werden will. Ab da wird es schwierig, da vieles nur begrenzt oder gar nicht möglich ist. Schwimmen? Ja, ist möglich, in der Ostsee. Etwas kühl, sicher, man gewöhnt sich daran, wenn man im September nicht mit dem Baden aufgehört hat. Seit Wochen keine Kultur im ganzen Mecklenburger Land trotz guter Konzepte. Das ständige Testen hält von vielen Aktivitäten ab. Jetzt ist Fantasie gefragt!

Ich bin ein kontaktfreudiger Mensch und lechze nach spontanen Begegnungen. 

Ein guter Ort dafür ist unser Wochenmarkt am Samstag. Da er fast vor unserer Haustür stattfindet, benötige ich maximal 1/2 Stunde, um meine Einkäufe zu erledigen. Was heißt benötige? 

Benötigte muss es heißen, denn das ist inzwischen einer der wichtigen Ort für Begegnungen! Oder sollte es sein, denn auch der Markt findet mittlerweile immer reduzierter statt. Mehrere Händler haben ihr Kommen eingestellt. Nunmehr ist alles sehr übersichtlich. 

Während ich früher ein schnelles HALLO rief, traf ich auf Bekannte, bleibe ich jetzt stehen und beginne eine Unterhaltung oder lasse mich in eine verwickeln.

Am Stand von Sybille, meist mein erster Stopp, kaufe ich einen Sack Kartoffeln, Karotten, Rosenkohl und frische Eier, erfahre, dass es dem Gatten gut geht, der Hühnerverkauf läuft und dann noch: „… du weißt schon!“ 

Letzteres dauert länger und ich bin bemüht, den Gesprächsfluss zu stoppen, da die Schlange hinter mir schon lang ist.

„Komm nachher nochmal vorbei“, höre ich sie sagen „… dann erzähle ich den Rest.“ Mal sehen.

Weiter geht’s an meinen Lieblingsstand mit Wildfleisch. Ah, der Chef ist selber da, ein attraktiver Mittvierziger, der immer freundlich ist. Heute mit Hut – wow!

„Ich habe Filet von Hirsch und Reh!“, begrüßt er mich. Das klingt gut. Ich entscheide mich jedoch für Wildschweinschulter, weil ich Gulasch zubereiten will. Insgesamt wird aber Reh und Hirsch bevorzugt, meint er. Egal, diese Woche gibt es Gulasch. In einigen Teilen von Deutschland dürfen wegen Afrikanischer Schweinepest keine Wildschweine geschossen werden. Aber auch dort, wo der Abschuss möglich ist, reichen Abschussprämien nicht, um die Wildschweinbevölkerung unter Kontrolle zu bekommen. Einige Dorfbewohner können den Wildschweinen beim Durchackern der Böden in ihren Vorgärten zusehen, wo sie mit der ganzen Familie auftauchen. 

Zusammenhalt in der Familie zählt auch zur Resilienz. 

MVP ist noch nicht betroffen, aber die Schweine werden vor der Zerlegung auf ASP untersucht. Problematisch ist, dass das Ergebnis erst nach ein paar Tagen vorliegt. Der Aufwand insgesamt ist größer, was sich in den Preisen niederschlägt. Das wiederum wird nicht immer akzeptiert und muss mit den Kunden ausdiskutiert werden. Schwierige Situation! Ich sage zu ihm, dass ihm das mit seinem Charme sicher gelingt und verabschiede mich bis zur nächsten Woche. Er lächelt etwas schwach. Dem Mann mit den gletscherblauen Augen vom Broilerstand winke ich nur zu. Er lacht und winkt zurück. 

Heute ist es ungewöhnlich ruhig und ich bin tatsächlich nach einer halben Stunde wieder zuhause. Für heute ist ein Orkan angekündigt. Kann sein, dass es daran liegt.

Zuhause die Info, dass eines der seltenen Treffen mit den Freundinnen wegen der Sturmwarnung ausfällt. Wie soll ich da die sieben Säulen der Resilienz aufbauen? 

Realismus kombiniert mit Akzeptanz der Situationen ist noch am ehesten möglich. 

Optimismus verlieren, würde heißen: alles verlieren. Also optimistisch bleiben und den Geist etwas anstrengen, immer nach dem Spruch:

Wenn ich nichts tue, passiert auch nichts!

(Februar 2022)

Eine Kooperationsarbeit des Literaturhaus Rostock e.V. mit dem Kempowski Archiv Rostock e.V.