„Uns geht's ja noch gold“

Das Rostocker digitale Tagebuch

Lockdown, Home-Office,

Mist, geht nicht, meine Frau würde mich umbringen, würden hier Kinder herumtoben. Also werfe ich meine Kaffeemaschine an und mach mir einen Kaffee für den Weg, nebenbei läuft der Fernseher, die Nachrichtensprecherin verkündet die neuesten Beschlüsse, Schulen und Kitas bleiben geschlossen! Ich lache müde und mache mich auf den Weg. Geschlossen, am Arsch, ich zieh mich an und gehe zum Auto. Die kurze Fahrt vergeht dank hart metallischer Beschallung wie im Fluge. Auf Arbeit angekommen, sehe ich den Schulhof, er ist brechend voll, Kinder aller Altersklassen spielen fröhlich miteinander. Im Personalraum sitzen die üblichen Verdächtigen, kurze Begrüßung, kurzer Check-Up, der Tag kann beginnen. Chefin flitzt vorbei und drückt mit die aktuelle Anwesenheitsliste in die Hand, von meiner Klasse kommen 16 von 18, üblicher Schnitt, ja ja, Schulen und Kitas bleiben geschlossen. Ich schnappe mir meine Maske und es geht los.

Schulschluss, die Kinder strömen in den Hort, da wir die Klassenstufen trennen müssen, können wir die Garderoben nicht nutzen und die Kinder lagern ihre Sachen auf den Fluren, während sie sich bei mir anmelden, prüfe ich Hausaufgabenhefte und den Sitz der Masken der Kinder. Philip kommt aufgeregt zu mir. „Herr Dor, ich muss nochmal in die Schule!“ „Warum?“, will ich wissen. „Ich hab da meine Lüftejacke vergessen.“ „Deine was?“ Er erklärt mir, dass er eine extra Jacke hat, die er anzieht, wenn die Lehrerin alle 20 Minuten das Fenster aufreißt. Er darf rüber und mir fällt ein, dass ich ebenfalls lüften muss, kurzer Blick auf das Handy, 6°C, passt. Ich kontrolliere die Räume, alles soweit friedlich, die Kinder spielen, da fällt mir Kinski auf, der sich gerade an mir vorbei schleichen will. „Ähm, Kinski.“ Er sieht mich mit einer Mischung aus Langeweile und königlicher Erhabenheit an „Kann es sein, dass du es nicht rechtzeitig auf Toilette geschafft hast?“, verweise ich, auf seine im Schritt nasse Hose deutend, aber diese Information scheint ihn herzlich wenig zu interessieren, er zuckt nur mit den Schultern, zieht die Maske über die Augen und will weitergehen. „Kinski, komm mal bitte.“ Er zieht die Maske wieder herunter und sieht mich mit einem nun wahnsinnigen Blick an. „Kann passieren, aber bitte wechsel die Hose, du hast Sportzeug mit, nimm davon die Hose.“ Nur ein Augenrollen als Antwort. „Die lange Hose!“, rufe ich ihm hinterher. Weiter darüber nachdenken kann ich nicht, denn es fliegt ein Stuhl an mir vorbei, der Hochbegabte hat mal wieder eine Eingebung. Meine Kollegin Ulrike wirft sich dazwischen, während Lucy schreiend aus dem Raum rennt, ich geselle mich dazu und frage nach, was passiert ist. „Er saß auf dem Teppich und hat gespielt, Lucy auf dem Stuhl hinter ihm, als sie aufgestanden ist, ist der Stuhl umgekippt und hat ihn leicht berührt,“ erklärt Ulrike „Die wollte mich umbringen!,“ brüllt der Hochbegabte „Und jetzt?,“ frage ich „Bringe ich sie um!,“ ist seine Antwort. „Ist das nicht etwas viel Aufwand, wollen wir das nicht erst mal zusammen mit Lucy klären?,“ schlage ich vor. „Nein, mein Papa sagt, ich soll mich wehren.“ Innerlich werfe ich 1€ in das Phrasenschwein.

Herr Dor‘s Top 5 der Elternphrasen:

5. So etwas tut er/sie/es Zuhause nicht
4. Sozialverhalten lernt er schon in der Kita/Schule
3. Dafür habe ich keine Zeit oder Wann soll ich das denn noch machen?

2. Haben sie Kinder?
1. Wenn dich einer ärgert, wehr dich.

Die nächsten 5 Minuten bestehen daraus, den Jungen zu beruhigen und die Eltern anzurufen. Nachdem das geschafft ist, blicke ich mich im Gruppenraum um. Die meisten Kinder haben die Masken abgenommen oder tragen sie unter dem Kinn. „Wer Frischluft will, zieht sich an und geht raus, alle anderen Masken auf,“ rufe ich in den Raum, der sich schlagartig leert. Draußen kann auch ich endlich den Schnutenpulli abnehmen, kurz durchatmen, und Erika bei der Aufsicht unterstützen. Marie gesellt sich zu uns und kuschelt sich an meinen Arm „Na Große, was los?“ frage ich sie.„Nichts, warte nur, dass mein Bus endlich kommt.“ Ich sehe auf die Uhr. „15 Uhr, wie immer?“ Sie schüttelt den Kopf. „Nein, 13:30 heute.“ „Oh, heute früher.“ Sie antwortet glücklich: „Mama ist zuhause, darum darf ich früher.“ Da werde ich skeptisch. „Hat Mama denn Urlaub?“ „Nein, Verdacht auf Corona,“ sagt sie und lehnt sich noch mehr an mich. Völlig perplex patsche ich auf ihren Kopf. „Ok.“ Wo eben noch Erika stand, ist nur eine Staubwolke zu sehen und 5 Minuten später kommt sie wieder und man könnte meinen, sie hat in Desinfektion gebadet.

Wir nähern uns dem Feierabend und ich gehe wieder mit den Kindern rein, wasche mir sehr gründlich die Hände und gehe dann in den Spätdienstraum. Da schneit auch bereits die Mama von Kinski herein. Sie möchte wissen, warum er die Sporthose trägt und ich antworte wahrheitsgemäß. „Achso, das wieder,“ sagt sie und weckt meine Neugier. „Wie, wieder?“ „Naja, wenn er spielt oder Fernsehen guckt und keine Lust hat, das zu unterbrechen, lässt er halt laufen.“ „Mama,“ freut sich Kinski und die beiden lassen mich sprachlos zurück.
Ulrike bringt 2 Tassen dampfenden Kaffee herein und wir lassen uns auf den berühmten Erzieher- Stühlen nieder. Kaum ein Schluck getrunken, tanzt die kleine Mimi heran, lächelt fröhlich, klackt die Hacken zusammen, wippt auf den Zehen und sagt: „Herr Dor, ich hab Bauchschmerzen. Kannst du meine Mama anrufen?“ Kurzer Blick auf die Uhr. „Mausi, du gehst in 10 Minuten eh nach Hause.“ Sie lacht und tanzt fröhlich von dannen. „Danke, Herr Dor.“ Ulrike lächelt nur und schüttelt mit dem Kopf, wir trinken genüsslich unseren Kaffee. Ein herrliches Klischeebild, wir sitzen da und trinken Kaffee, weiter darüber sinnieren kann ich nicht, denn Frau Writzrikofksi kommt des Weges und sucht ihren Sohn. Sie sieht sich in den Räumen um und findet ihn nicht. „So viele Kinder hier, ich denke, die Schule ist geschlossen und ihr macht nur Notbetrieb.“ Ulrike und ich sehen uns vielsagend an. „Die Präsenzpflicht wurde aufgehoben,“ erkläre ich. „Die Schule läuft normal weiter.“ Frau Writzrikofski sieht sich entgeistert um. „Und das heißt?“ „Dass über 80% der Kinder trotzdem zur Schule und in den Hort kommen.“ „Aber das ist doch völliger Unsinn, wenn ich nicht im Pflegeheim arbeiten würde, würde ich meinen Sohn auch Zuhause lassen. Und ich glaube viele andere Eltern auch,“ erklärt sie sich. Ich stelle meine Tasse zur Seite und rufe in den Raum hinein: „Zuhören! Bitte kurze Hände hoch, wessen Eltern Home-Office machen oder allgemein Zuhause sind!“ Die Augen der Frau werden riesig als sie sieht, dass sich von 25 Kindern 10 melden. Auch die kleine Mimi meldet sich und fragt, ob sie nun nach Hause kann. „Mimi, was machst du hier?“ Fragt Frau Writzrikofski erstaunt. „Deine Mama ist doch Friseurin, die arbeitet doch momentan gar nicht.“ „Doch,“ sagt Mimi, „sie arbeitet schwarz.“ Und so hüpft das kleine Mädchen fröhlich von dannen und lässt die Frau sprachlos zurück, ihr Mund öffnet und schliesst sich unter der Maske sichtlich und erinnert mich an einen Karpfen. „Noch Fragen?,“ will Ulrike wissen. „Mein Sohn?,“ stammelt Frau Writzrikofski. „Kommt gerade von Toilette,“ sage ich. „Tschüss,“ sagt sie. „Bis morgen,“ sage ich.
So sitzen Ulrike und ich einen kurzen Moment da, bis er je durch den Wecker unterbrochen wird.„Lüftezeit,“ rufe ich und stehe auf. Die Kinder verkrümeln sich vom Fenster und Philip holt seine Jacke. Erstaunlich wie schnell Menschen sich an so etwas gewöhnen können. „Weißt du was?,“ fragt Philip, der sich seine Jacke übergeworfen hat. „Was denn?,“ frage ich zurück. „Ich freue mich, wenn der Hort wieder zu sein kann.“ Ich bin verwirrt. „Warum?“ Er lacht. „Weil ihr dann nicht mehr lüften müsst.“

Eine Kooperationsarbeit des Literaturhaus Rostock e.V. mit dem Kempowski Archiv Rostock e.V.