„Uns geht's ja noch gold“

Das Rostocker digitale Tagebuch

K i n o

Etwas, was ich in diesen Zeiten so richtig vermisse, ist das Kino. Wieder einmal in den Sessel sinken, die fünf Bonbons essen, den Vorspann ansehen und dann in den Film eintauchen – das wär's!

Ich habe immer genau fünf Bonbons mit und wenn der Hauptfilm startet, sind sie alle. Ein Ritual. Schon in ganz frühen Jahren ging ich ins Kino. Wir wohnten auf dem Dorf, wo einmal im Monat im Dorfgasthof ein Film vorgeführt wurde. Nachmittags die Kindervorstellung und später noch zwei weitere Vorstellungen. Eine Kinokarte kostete 25 Pfennig und manchmal war selbst dieses Geld knapp, da wir sehr viele waren. Wenn ich kein Geld für die Karte bekam, lungerte ich vor dem Gasthof, bis der Vorführer, der mich schon kannte, sagte:

"Nun komm schon rein!"

Ansonsten kaufte ich mir eine Karte und lief zur ersten Reihe. Ich saß immer in der ersten Reihe und wenn der Film begann, hatte ich die Kinokarte vor Aufregung aufgegessen. Begann der Film, vergaß ich alles um mich herum und tauchte in eine fremde Welt ein. Die Bilder faszinierten mich und weckten Sehnsüchte nach fernen Ländern und einem anderen Leben.

Mein erster Erwachsenenfilm, in den mich meine Mutter mitnahm, war Anfang der sechziger Jahre VERGESST MIR MEINE TRAUDEL NICHT mit Eva Maria Hagen in der Hauptrolle. So richtig verstanden habe ich ihn nicht, es war eher das Gefühl, das man im Leben alles erreichen kann. Die 18-jährige Traudel läuft aus einem Heim davon und hat nur einen Zettel bei sich, auf dem obiger Satz steht. Selbst fast noch ein Kind kommt sie mit Charme und Witz durchs Leben. Das gefiel mir.

Ende der Sechziger Jahre kam der Film MANCHE MÖGEN'S HEISS in die Kinos. Auch nach Riesa! Ich schaute ihn dreimal an, an drei Tagen hintereinander. Einfach ein grandioser Film! Insgesamt sah ich ihn bestimmt über zwanzig Mal und wenn er heute im TV kommt, schaue ich ihn wieder an. Inzwischen kann ich die Dialoge auswendig, klar. Und immer wieder amüsiere ich mich köstlich über den Wortwitz der Akteure.

Mir fällt bei der Erinnerung auf, dass ich sehr oft allein im Kino war. Es war für mich ein kurzes Vergessen des Alltags, das ich auch mit dem Lesen erreichte.

Ein Film, der mein Lebensgefühl absolut traf, war DIE LEGENDE VON PAUL UND PAULA. Inzwischen studierte ich in Berlin und die Kinos waren grösser und moderner. Dieser Film lief 1973 im Kino International in der Karl-Marx-Allee. Ich sah den Film sechs Mal, an sechs Tagen hintereinander. Die Musik der Puhdys und die Texte der Lieder gingen unter die Haut, das Spiel von Angelika Domröse und Winfried Glatzeder war absolut authentisch. Zwei Menschen, die sich in einer Zeit begegnen, in der sie einander brauchen, die nicht viel fragen. Die Fragen kommen erst, als aus dem Verliebtsein Liebe wird.

Einer meiner ersten Filme im CAPITOL in Rostock war der Film EINER FLOG ÜBER'S KUCKUCKSNEST. Es war November, eisiger Wind pfiff durch die Breite Strasse und als ich aus dem Kino kam, fror ich noch mehr. Die Vortäuschung einer psychiatrischen Erkrankung, um dem Arbeitsdienst im Gefängnis zu entgehen, wird von Jack Nicholson gespielt und endet tragisch. Ich denke, diesen Film hat fast jeder gesehen.

Ich gehöre zu denen, die nah am Wasser gebaut sind und natürlich im Kino weinen. Inzwischen so, dass die Tränen rinnen, aber kein Schluchzer ertönt. Stimmt nicht ganz!

Beim Film WEISSER OLEANDER mit Michelle Pfeiffer musste ich fast von Anfang an weinen. Sie spielt in diesem Film eine alleinerziehende Mutter, die ihren Mann, der sie enttäuschte, vergiftet. Vom Gefängnis aus korrespondiert sie mit ihrer Tochter, die in verschiedenen Pflegefamilien, teils im Heim aufwächst. Eine psychologische Studie, die brillant gespielt wurde und unter die Haut ging.

Neben mir saß  damals ein Mann, der genauso heulte und schluchzte wie ich. Ich kannte ihn nicht, fand das aber sympathisch. Das Kino war mässig besetzt, ein Glück!

Nachdem die Tränen getrocknet waren, wir uns im Dämmerlicht scheu gemustert hatten, beschlossen wir, bei einem Glas Wein den Film auszuwerten. Es war ein langer Abend, denn es gab viele Parallelen bei unserem Filnkonsum.

Inzwischen bevorzuge ich Programmkinos aus einem banalen Grund: es gibt kein Popkorn und die Filme sind anspruchsvoller.

Ich wurde irgendwann einmal gefragt, wie ich Filme auswähle und musste erst einmal überlegen. Krimis mag ich nicht so gern, weil ich Spannung schlecht aushalte. Diese schaue ich lieber Zuhause an, weil ich dort ständig das Zimmer verlassen kann. Filme mit Tiefgang, psychologisch angehaucht, ja, das mag ich. Sehr gern französische Filme, die auch der Gatte gern mag. Er kommt mit ins Kino, sofern es keine amerikanischen Filme und Psychodramen sind.

Hat halt jeder eine Vorliebe.

Nun warte ich darauf, dass bald ein Kinobesuch möglich sein wird. Mit der Alternative Netflix und Streaming kann ich mich schlecht anfreunden, weil die Atmosphäre fehlt, diese Stimmung, wenn das Licht langsam ausgeht, das letzte Flüstern verstummt, es ganz dunkel wird und dann der Film beginnt.

Ich verstehe bis heute nicht, warum Kinos geschlossen sind und der EDEKA in Warnemünde, wo man beim Einkaufen fast Hautkontakt hat, öffnen darf. Die Hygieneregeln wurden mehr als eingehalten, jede zweite Reihe frei, zwei Plätze rechts und links ebenfalls frei. Es sei denn, man hatte mit dem direkten Nachbarn ein Verhältnis oder Beziehung oder gab es vor, dann durfte man nebeneinander sitzen.

PS: Eben kam die Nachricht, dass nächste Woche die Kinos in den USA unter bestimmten Bedingungen öffnen können. Das lässt hoffen! Wenn Amerika, nunmehr mit Präsident Biden, etwas vorgibt, soll es gut sein und Deutschland greift es auf.

Oder doch nicht?

Eine Kooperationsarbeit des Literaturhaus Rostock e.V. mit dem Kempowski Archiv Rostock e.V.