„Uns geht's ja noch gold“

Das Rostocker digitale Tagebuch

Im Osten nichts Neues

[Ein Wohnzimmer irgendwo in Rostock.]

E: „Es ist doch interessant. Wie anpassungsfähig der Mensch ist. Man gewöhnt sich an vieles.“
[E lässt ihren Blick über das Chaos im Wohnzimmer schweifen. Schaukelstuhl, Sessel und Sofa sind unter diversen Decken verschwunden und zu einem großen Höhlengebilde geworden. Bausteine, Bastelutensilien und Bilderbücher bilden eine kunterbunte Landschaft auf dem hellen Teppich.]
O: „Was meinst Du?“
E: „Lockdowns, Masken, Notbetreuung, Quarantäne, Schnelltests...“ [Im Storchenschritt durchquert sie den Raum. Ihr Ziel ist das Fenster.]
O: „Bist Du noch da?“
[Zwei übermütig gackernde Kinder poltern in den Raum und verschwinden in ihrer Höhle. Dann kippt das Lachen und wird zum Schreien. Ein zerzauster Wuschelkopf mit rotem Gesichtchen und Tränen in den Augen erscheint und blickt E hilfesuchend an.]

E: „Ja – entschuldige, mir sind grad die Gedanken entgleist. Uns geht’s ja noch gold!“
O: „Kindchen, was ist denn los bei Dir? Ich verstehe Dich kaum noch.“
E [ruft gegen das Geschrei an]: „Die Kinder sind zu Hause. Eine Woche Kita-frei, damit wir Euch Ostern nichts anschleppen. Moment – Emil, gib Ella das Buch zurück! Lasst mich bitte noch kurz mit der Uroma sprechen.“
O: „Gib den beiden Mäusen ein Küsschen von mir! Wie geht es ihnen?“
E: „Bis auf die obligatorischen Schnupfnasen ist alles in Ordnung. Wie gesagt: UNS geht‘s doch gut! Nur 1500 Kilometer weiter östlich herrscht jetzt Krieg.“
[Schweigen. E bemerkt, dass ihr Bein heiß wird. Unwillkürlich dreht sie den Regler der Heizung auf 1 herunter. Als ob das etwas ändern würde.]

O [erschöpft]: „Kaum sind die Zeitzeugen des Zweiten Weltkriegs tot oder steinalt... Ich hätte es nicht für möglich gehalten, dass in Europa so etwas noch einmal passieren würde.“
E: „Die Sinnlosigkeit macht mich fassungslos. Wie viele Menschen für immer gezeichnet sein werden, wie viele Leben schon jetzt zerstört sind?! [Pause.] Wie geht es Olena denn?“
O [seufzend]: „Wusstest Du, dass sie einen zwanzigjährigen Sohn hat? Olena kann ihn nicht erreichen. Sie weiß nicht, wo er steckt.“
[E starrt aus dem Fenster ins Leere.]

O: „Weißt Du, auf der einen Seite ist sie froh, in Sicherheit zu sein und in Deutschland arbeiten zu können, uns Alte zu versorgen. Auf der anderen Seite fühlt sie sich ganz furchtbar, weil sie nicht bei ihrem Sohn, nicht bei ihrer Familie ist. Sie hilft uns fremden Menschen, während in ihrer Heimat so viele Hilfe bräuchten. Es sind grausame Zeiten.“
E: „Und es ist kein Ende in Sicht.“

[Nach einer weiteren langen Pause leitet O das Ende des Gesprächs ein.]
O: „Nun kümmere Dich mal wieder um Deine Kinder. In ein paar Tagen sehen wir uns ja schon. Wir freuen uns so auf Euch. Die Kinder sind bestimmt wieder ein ganzes Stück gewachsen seit Weihnachten.“
[Als hätten sie nur auf das Stichwort gewartet, machen sich Emil und Ella wieder lautstark bemerkbar.]

E: „Wir freuen uns auch. Ich hoffe, es kommt nichts mehr dazwischen...Wir testen uns vor der Abfahrt.“
O: „Wird schon werden. Grüß alle lieb und fahrt vorsichtig.“

 

Eine Kooperationsarbeit des Literaturhaus Rostock e.V. mit dem Kempowski Archiv Rostock e.V.