„Uns geht's ja noch gold“

Das Rostocker digitale Tagebuch

Familienehre

Es war Ostermontag, der 13.April 2020 in Rostock, und Otto Habetznic hockte in einer kleinen 3-Zimmer-Wohnung in Lichtenhagen auf dem Sofa und glotzte genervt in die Flimmerkiste. Corona, Corona. Er konnte es schon nicht mehr hören. Ständig überboten sich die Politiker mit irgendwelchen Horrorszenarien und eindringlichen Appellen an die Bevölkerung, ja zuhause zu bleiben. Nur noch dieser letzte Kraftakt, so sagten sie, dann würde alles besser werden. Pah! Wer‘s glaubte! Noch monatelang würden die Beschränkungen aufrechterhalten werden. Manche philosophierten bereits darüber, dass es ein normales Leben, wie vor Corona, erst 2021 wieder geben würde.
Keine Besucher, keine Urlauber dieses Jahr. Otto Habetznic brannte das Herz. Früher war Rostock ein wahrer Magnet für Besucher aus aller Herren Länder gewesen. Er wusste es, denn in dem Geld, das er einnahm, fanden sich bisweilen sogar Münzen aus Neuseeland oder Mexiko. Ständig kamen über Warnemünde, in riesigen Kreuzfahrtschiffen, Hunderte und Tausende von ihnen in die Stadt. Die Badegäste tummelten sich am Strand und die Geschäfte gingen gut. Was lernte man alles für Leute kennen: freundliche zumeist, neugierige, eitle und arrogante, junge, alte, mit Krückstock, ohne, mit Kinderwagen oder ohne. Und allen saß das Geld locker in der Tasche. Es waren herrliche Zeiten für Taschendiebe wie ihn.
Aber dieses Jahr war es anders. Wie sollte er als ehrlicher Kleinganove da seine Familie durchbringen? Deutschland hatte seine Grenzen für Ausländer geschlossen und diese Deppen in Schwerin hatten sogar noch einen drauf gesetzt und über die Osterfeiertage auch die innerdeutschen Grenzen zu Mecklenburg-Vorpommern total dichtgemacht.
Er war trotzdem draußen gewesen. Jeden Tag. War die Kröpeliner Straße und die Lange Straße entlang patrouilliert und auch auf der Promenade und am Alten Strom in Warnemünde hatte er nach dem Rechten geschaut. Doch bestenfalls einige Einheimische hatten sich sehen lassen. Hinzu kamen diese völlig überzogenen Benimm-Regeln. Ein Mundschutz zum Maskieren und Vermummen mochte ja noch angehen, auch wenn man damit weniger schnell wegrennen konnte. Aber ein Abstandsgebot von 1,50 Meter? Das war das reine Gift fürs Geschäft! Dabei hatten doch nun wirklich schon genug Läden ihre Pforten schließen müssen. Sollte auch ihn das gleiche Schicksal treffen?
Seine Frau Magda kam aus der Küche zu ihm ins Wohnzimmer, um ihm ihre schlechte Launen mitzuteilen. „Anstatt hier untätig herumzusitzen, kannst du mir beim Mittagessen zur Hand gehen! Ein bisschen Arbeit wird dich schon nicht umbringen!“
Otto Habetznic fiel der Unterkiefer herunter. Gerade wollte er zu einer gepfefferten Antwort ansetzen, aber da war sie schon wieder aus dem Wohnzimmer verschwunden. Es war nicht einfach in einer Zeit, in der die Frau das einzige Geld für die Familie verdiente. Sie war zwar nur eine einfache Putze, aber das sah man dem Geld ja nicht an.
Auch andere Familien hatten jetzt, wo alle soziale Kontakte meiden und zuhause herumsitzen sollten, so ihre Probleme. Die Kummerjahns von oben und die Maleskis von nebenan zofften sich fast den ganzen Tag. Es war nicht gut für die Kinder, derart viele neue Schimpfworte zu lernen.
Überhaupt waren die Schulen geschlossen und auch das Lernen sollte jetzt zuhause erfolgen – unter Hilfestellung der Eltern. Was bildeten sich diese faulen Pädogogen [sic!] oder wie sie sich schimpften überhaupt ein? Dass er selbst noch einmal die Schulbank drücken sollte, um sich dann doch nur vor seinen Kindern zu blamieren?
Ein Glück war Anton so etwas wie ein Genie in der Schule. Insbesondere in Mathe, was kein Wunder war, so viel Zeit, wie er vor dem Computer verbrachte. Dabei hatte er für das Familiengeschäft keinerlei Sinn. Es war zum Haare raufen, wie der Bengel zuhause vor dem Rechner seine Zeit verplemperte, anstatt draußen arglose Touristen auszuplündern. Tausendmal schon hatte er ihm gesagt, er solle seine Jugend nicht einfach so wegwerfen, wenn ihn mit 14 die Strafmündigkeit erwartete. Es war also nur noch ein halbes Jahr, in dem er ihm so vieles hätte beibringen können, wäre nicht dieser verflixte Virus aufgekreuzt und hätte alles vermasselt. Es war wirklich zu dumm!
Wenigstens die kleine Marie machte ihm keinen Kummer. Mit ihren vier Jahren stibitzte sie anderen Kindern schon gekonnt deren Spielsachen aus der Sandkiste und auch im Schwindeln machte sie große Fortschritte. Immer wenn er die Kleine sah, ging ihm das Herz auf vor Freude.
Magda trug mürrisch das Essen auf und rief die Kinder. „Du hättest mir wirklich helfen können, als ich dich darum gebeten habe“, sagte sie zu ihrem Mann.
Otto Habetznic wollte keinen Streit mit seiner Frau vor den Kindern und so verfiel er auf die Idee, seinen Ältesten etwas herunterzuputzen. „Na, Anton. Hast du den Tag wieder mit deinen dämlichen Computerspielen verbracht, anstatt deine Finger an der Klingelpuppe zu trainieren? Tausendmal habe ich dir schon gesagt, dass du das machen musst, wenn du jung bist und deine Finger noch gelenkig. In ein paar Jahren kann aus dir niemals mehr ein guter Taschendieb werden!“
Anton sah den Vater gleichmütig an. „Ich habe euch noch gar nicht eure Ostergeschenke gegeben“, sagte er schließlich und kramte aus seiner Hosentasche eine schöne Goldkette mit Anhänger und kleinen Edelsteinsplittern darauf für die Mutter und eine goldene Armbanduhr für den Vater hervor.
„Aber Anton“, sagte die Mutter voller Erstaunen.
Auch Otto Habetznic war schlicht baff. Solch eine schöne Überraschung hatte er nicht erwartet. „Wo hast du denn die geklaut, Junge?“, fragte er stolz.
„Ich habe nicht gestohlen. Ich habe beides online gekauft.“
„Gekauft?“ Otto Habetznic blieb vor Schreck beinahe das Stück Schnitzel im Hals stecken. „Wie oft habe ich dir gesagt, dass wir hier nichts kaufen? Hier wird gestohlen, verstanden? Dein Großvater würde sich im Grabe umdrehen, wenn er wüsste, was sein Enkel so treibt!“ Er blickte zornig auf die teure Uhr. „Wo hast du eigentlich das Geld her gehabt?“
„Ich habe es ehrlich ergaunert“, sagte Anton pflichtbewusst.
„Und wie, wenn man fragen darf?“, entgegnete Otto Habetznic.
„Die Landesregierung gibt vielen Unternehmern und Selbständigen Soforthilfen, wenn man nur einen Antrag beim Landesförderinstitut stellt.“
„Und?
„Und ich habe eine falsche Homepage entworfen, bei der auch schon viele ihre Daten eingegeben haben. Damit habe ich dann echte Anträge mit meiner Kontonummer gestellt und auch schon Geld überwiesen bekommen.“
„Wieviel?“
„Ungefähr 30.000 Euro allein in der letzten Woche.“
Otto und Magda Habetznic sahen sich verblüfft an.
„Du bist ein braver Junge“, sagte die Mutter und streichelte ihrem Sohn glücklich über die Wange.
„Du hast die Familienehre also doch hochgehalten. Respekt, Anton“, musste Otto Habetznic neidvoll anerkennen. Insgeheim wurmte es ihn aber, wie es der Sohn hatte wagen können, derart besser zu sein als er selbst. Noch dazu mit einer Idee, auf die er niemals gekommen wäre. Doch was konnte er schon tun? Es waren seltsame Zeiten, in denen alles auf den Kopf gestellt wurde. Es waren die Zeiten des Corona-Virus.

Eine Kooperationsarbeit des Literaturhaus Rostock e.V. mit dem Kempowski Archiv Rostock e.V.