„Uns geht's ja noch gold“

Das Rostocker digitale Tagebuch

Einträge 25. März - 30. April

25.03.

Eingekesselt, weggesperrt, kaserniert, eingemauert.
Schlange vor den Geschäften, am Einlass wird gezählt – aber volles Warenangebot. Nur Klopapier ist rar – droht uns die Diarrhöpandemie? Und Hefe ist ausgegangen – jetzt ein Land der Volksbäcker? Und die vollgepackten Einkaufwagen: ist der Dritte Weltkrieg ausgebrochen?
Ruhe kehrt ein.
Erinnerungen an die Jugend – mit manchmal heißen Ohren Boccaccios Decamerone gelesen. Damals war’s die Flucht vor der Pest. Band vergeblich gesucht, einen im Antiquariat gekauft – reingefallen, nur Auszüge aus den prüden 70er Jahren – Volksausgabe. Aus dem Nachwort: „… ein verzeihlicher Verstoß gegen den guten Geschmack, Dinge, die nur vom Mediziner mit einem Fachausdruck belegt werden, so frei zu bezeichnen ..“.
Also eine bibliophile Gesamtausgabe gekauft – jeden Abend eine Novelle lesen. Die werden inzwischen auch beim Deutschen Theater statt der Inszenierung vorgelesen – aber der Bildschirm ersetzt nicht die Haptik des Buches.
Anderen fällt Camus Pest ein – in meiner Sturm-und-Drang-Zeit gelesen – vergessen. Ich erinnere mich stattdessen an den Tod in Venedig – haben andere übersehen. Thomas Mann floh vor der Cholera in Venedig und ließ sie in seiner Novelle hinter sich.
 

30.03.

Der Strand von Markgrafenheide: Weiß, weit, leer – in der Ferne ein Paar. Solche Strandbilder betrachtet man gerne in Ferienprospekten – es sind Strände im Süden oder in der Karibik. Karibische Anmutung in MV – immerhin, wenn man zu sehen weiß.
Am Abgang zum Strand fehlt etwas. Was? Ach ja, die Strandbar mit den sich sonnenden und miteinander redenden Gästen. Jetzt nur Leere – fast unberührt.
Am Strandabgang hat das Hotel mit Restaurant geschlossen. Die Strandkörbe davor sind gesperrt. Kein Kaffee, kein Glühwein, nichts zum Abschluss. Gespenstisch. Der arme Wirt, das unnütze Personal – werden sie die Krise überstehen? Allendes Geisterhaus lässt grüßen.
 

28.04.

Grundnahrungsmittelpreise steigen – da wird gemurrt. Die internationalen Lieferketten – sowohl bei Importen als auch Exporten – sind fragiler als wir dachten. Brauchen wir überhaupt die weltweiten Lieferkletten, nur wegen ein paar Eurocent niedriger Preise? Muss ein Kotelett billiger sein als eine Flasche Bier?
Etwa 300.000 Erntearbeiter, die viele 100 km von zu Hause entfernt sind und oft Wochen und Monate ihre Familie nicht sehen, fehlen in ganz Europa – das verteuert. Man wundert sich, über rund 3,7 Mio Leistungsempfängern von Arbeitslosengeld II – niemand mag die ausländischen Erntearbeiter ersetzen.
Ach das murren: Trotz Kurzarbeitergeld hat mancher jetzt mehr von seinem Geld: Beide PKW bleiben stehen, Ferienreisen und Kurzreisen, Gaststättenbesuche, Konzertbesuche fallen aus. Kann man sich da nicht einen Solidaritätsbeitrag für die Landwirtschaft leisten? Die Pandemie sollte uns dauerhaft solidarischer machen.
 

30.04.

Aus aktiver Politik wurde eine Expertokratie. Politiker, Wissenschaftler und Bürger gingen Hand in Hand. Und man zeigte sich stolz auf „unsere Wissenschaftler“.
Doch nun ist genug. Alle Bücher sind gelesen – soweit man überhaupt noch liest, denn der Umsatz auf dem Buchmarkt ist trotz digitalem Verkauf zurück gegangen. Alle Kinderspiele sind gespielt, neues fällt nicht ein. Häusliche Gewalt hat sich ausgetobt, befriedigt auch nicht mehr. Und Sex wird langsam langweilig.
Also nimmt Otto Normalbürger das Heft in Sachen Corona in die Hand und wird zum Experten. Das haben wir doch schon immer eingeübt. Mit Bierflasche rechts und Chips links wissen wir, welche Aufstellungsfehler der Trainer beim Fußball macht, wie man hätte den Ball ins Tor reinmachen sollen, wie man hätte den Torschuss wegpflücken müssen.
Und jetzt sind wir Experten in Sachen Corona – die Wissenschaftler sind jetzt keine Experten mehr.
Und wir sind sich alle einig: Aufmachen, rauslassen, öffnen. Wir sind doch ein Volk von Brüdern und nicht von Isolationshäftlingen.
Und die zweite Welle die da anrollen soll? Die Expertokratie kämpft doch nur um ihre Macht – heißt es. Und so sehen es auch die Politiker, die gewählt werden wollen. Herr, leite die Stimme des Volkes zu meinem Sieg.

Eine Kooperationsarbeit des Literaturhaus Rostock e.V. mit dem Kempowski Archiv Rostock e.V.