„Uns geht's ja noch gold“

Das Rostocker digitale Tagebuch

Donnerstag, 16.April 2020

Pünktlich 9.30 Uhr holt mich der Wagen vom Küstendomizil Elmenhorst von meiner Wohnung in Warnemünde ab. Nach meiner mehr als dreijährigen Weltreise habe ich kein Auto mehr. Und ich überlege ernsthaft in diesen Tagen, ob ich jemals wieder eins besitzen möchte.

Ich bin Liedermacherin Bea und werde zu  einem Konzert im Innenhof des Seniorenheims nach Elmenhorst gefahren. Die Bewohner warten schon auf mich. Das sehe ich als wir ankommen. Sie sitzen schon in ihren Zimmern und im Speisesaal hinter den Scheiben. Erwartungsfroh, einige auch teilnahmslos. Vor meiner Weltreise und der sich anschließenden Pandemie habe ich oft in Altenheimen und Rehakliniken in ganz Deutschland gesungen. Aber in diesen Tagen ist alles anders.
Wie kann ich mithelfen, die alten Leute aus ihrer Isolation zu holen? Das ging mir von Anfang an sehr nahe. Dann hatte ich endlich die Idee. Du stellst dich einfach vor die Heime und singst mit Verstärker. Das habe ich dann am 3. April in Warnemünde zum ersten Mal getan. Und eine Bewohnerin feierte "zufällig" gerade an diesem Tag ihren 100.Geburtstag. Als mir das jemand zuraunte und ich dann ein Geburtstagsständchen darbrachte, da spürte ich den besonderen Moment. Was hat diese Frau in den 100 Jahren nicht alles schon er- und überlebt. Mitten in die Inflation hinein geboren, Weltwirtschaftskrise, Faschismus, Krieg, vielleicht auch Vertreibung und dann die entbehrungsreichen Jahre beim Wiederaufbau in der DDR. Kann so einen Menschen überhaupt noch etwas erschüttern?

Als sie mir vom Balkon aus in sicherer Entfernung fröhlich zuwinkte und klatschte und sich sichtbar sehr freute, wusste ich, dass sie an diesem Tag besonders glücklich war. Sehr berührt fuhr ich nach Hause und erfuhr hinterher, dass es den Bewohnern auch sehr gefallen hatte. Besonders dankten mir ihre Angehörigen, die meine Ankündigung in der Zeitung gelesen hatten und ihre Mutti wenigstens als entfernte Zaungäste an diesem besonderen Tag sehen durften und ihr wenigstens zuwinken konnten.
Und auch heute bei dem nunmehr 6.Konzert dieser Art darf ich wieder miterleben, wie die Bewohner die alten bekannten Volkslieder, die ich für sie herausgesucht habe, voller Freude mitsingen, einige sogar mit dirigieren und dann dankbar an die Scheiben klopfen oder klatschen. Heute ist es wieder ganz schön windig. Und so wird das kleine Konzert wieder zu einer großen Herausforderung. Ich bin dick eingepackt und mit heißem Tee versorgt. Auch die Bewohner, die draußen in ihren Rollstühlen sitzen, bekommen extra Decken. Und der Wind droht ständig meinen Notenständer umzuschmeißen, so als würde er sich wundern, warum ich hier draußen in der Kälte stehe und nicht drinnen im Warmen singe. Das geht in diesen Tagen leider nicht.

Nach einer halben Stunde und ettlichen Zugaben sitze ich im Auto und bin glücklich, mit dem was ich am besten kann in diesen Tagen helfen zu dürfen. Die dankbaren Augen der Bewohner begleiten mich in den weiteren Tag.

Eine Kooperationsarbeit des Literaturhaus Rostock e.V. mit dem Kempowski Archiv Rostock e.V.