„Uns geht's ja noch gold“

Das Rostocker digitale Tagebuch

DIESER KÖRPER WIRD IHNEN PRÄSENTIERT VON: CORONA

Die Nachricht erwischte uns eiskalt und wie aus dem Nichts. Der Laden wird dichtgemacht, alle ab nach Hause, Kurzarbeit, Bereitschaft auf Abruf, Homeoffice wer kann. Sicher, wir hätten besser vorbereitet sein können, mit dem Schlimmsten rechnen müssen; die Meldungen aus China und Italien haben die Richtung ja schon vorgegeben. Aber so weit denkt ja keiner.
Nun sitze ich hier und warte darauf, wieder arbeiten zu können. Für Homeoffice reicht mein Aufgabengebiet nicht, nur die Chefetage wurde mit Laptops versorgt. Ich bekomme nur zwei Drittel meines ohnehin dürftigen Gehalts, kann aber sowieso nichts ausgeben, weil die Geschäfte geschlossen sind. Ich mag auch nicht jeden Tag in den Supermarkt rennen, nur um Dinge zu kaufen, die ich eigentlich nicht brauche und mein Vorrat an Klopapier reicht noch ewig.
Die Firma rechnet mit mindestens vier Wochen. Vier Wochen! Was soll ich in der ganzen Zeit tun? Außer Essen, Schlafen und Netflix habe ich keinerlei nennenswerte Hobbys. Auch vor der Krise bin ich nur selten vor die Tür gegangen, wenn ich nicht zur Arbeit musste. Richtige Freunde habe ich nicht, nur ein paar Bekannte aus der Firma und meinen Bruder, der mich alle paar Wochen besucht. Früher war das anders, da war ich im Fitnessclub. Gewichte, Maschinen, Ergometer. Ich hatte Freunde mit denen ich abends unterwegs war, wir waren sogar ein paar Mal zusammen auf Ibiza. Was waren das für geile Zeiten! Ich hatte Dates mit schönen Frauen, guten Sex … aber das ist alles ewig her. Zwanzig Jahre? Irgendwann sind alle von hier weggezogen, nach Hamburg oder Berlin, oder haben Familien gegründet. Ich blieb irgendwie auf der Strecke, wollte nicht weg aus Rostock und mit einer Familie hat es nie so recht klappen wollen. 
Ich bin schon lange allein, mache keinen Sport mehr und es ist ewig her, dass ich mal gelacht habe. Ich wiege heute gut fünfzig Kilo mehr als noch vor zehn Jahren. Meinen Knien geht es nicht gut und mein Rücken ist eine einzige Katastrophe. Mein Bauch und meine Hüften hängen weit über die Gürtellinie und meinen Schwanz kann ich im Guten nur noch über den Umweg des Badezimmerspiegels sehen. Das ist erschreckend, ich weiß, und es ist jetzt genau die richtige Zeit, etwas daran zu ändern.
Also, auf geht’s. Ich bringe den Fernseher, den Computer und den WLAN-Router in den Keller; ich kippe alle Bier- und Colaflaschen in den Ausguss und schmeiße die Zigaretten weg; ich lege das Toastbrot, die Chipstüten und Nudelpackungen in einen Korb und stelle ihn mit einem »zu verschenken«-Zettel in den Hausflur; ich reiße alle Vorhänge von den Fenstern und lüfte stundenlang. Das ist gut! Es ist, als würde eine Schicht aus Dreck von mir abfallen, die jahrelang um mein jüngeres Ich gewachsen ist. Im Keller finde ich meine alten Kurzhanteln mit den schwarzen Aufsteck-Scheiben. Es sind so viele Scheiben, dass ich sie nicht alle mit einem Mal in die Wohnung tragen kann. Im Wohnzimmer habe ich alle Möbel an den Rand geschoben und in der Mitte eine alte Iso-Matte ausgerollt. Dort stecke ich die Scheiben an die Hanteln, an jede Stange zwei Mal fünf und vier Mal drei Pfund. Das macht rund elf Kilo plus die Stange, die ja auch noch was wiegt. Ich platziere die Hanteln links und rechts der Matte, stehe auf und schaue aus dem offenen Fenster. 
Draußen ist es sonnig und ruhig, und ganz weit hinten zwischen den Häusern sehe ich die Warnow glitzern. Ich atme tief ein, beuge mich zu den Hanteln und greife die Stangen. Mit einem letzten Atemstoß reiße ich die Arme hoch, doch außer einem ungesunden Knacken im Rücken passiert nichts. Die Hanteln bewegen sich keinen Millimeter nach oben, rollen nur auf dem Laminat wie zum Hohn hin und her. Rofl? Allright, aber Aufgeben ist nicht. Ich schraube die Scheiben wieder ab und lasse nur zwei Drei-Pfünder drauf; das sollte für den Anfang reichen … sieht ja keiner.

Seit vier Wochen nun folge ich drei Mal täglich meinem eigens entworfenen Kraftkreis, für den ich mir jeweils gut zwei Stunden Zeit lasse. Bizeps, Trizeps, Delta, Kapuze, Brust, Bauch, Rücken, Beine. Ich beuge, ich strecke, ich pumpe, ich flexe. Curls, Sit-Ups, Steps und Jumps. Die anfänglichen Schwierigkeiten waren in wenigen Tagen ausgeräumt. In der ersten Zeit konnte ich die Anzahl der Wiederholungen täglich erhöhen, und mittlerweile habe ich auch alle Scheiben wieder auf der Hantel. Ich habe meine Ernährung umgestellt: Morgens Haferflocken mit Bananen und Ahornsirup, mittags ein Ei und abends ein Salat. Dazu literweise Wasser. Zuerst hat meine Verdauung nicht mitgespielt, seitdem tausche ich die Bananen gegen Äpfel und bade den Salat in reichlich Öl … jetzt läuft’s wieder. Ich habe mein altes Fahrrad wieder auf Vordermann gebracht und fahre um die Mittagszeit um den Stadthafen rund zwölf Kilometer nach Gehlsdorf und zurück. Zwischen den Kraftkreisen und der Fahrradtour lese ich stehend und gehend, nie sitzend oder gar liegend. Ich war schon immer ein langsamer Leser, aber zwanzig Seiten am Tag sind auf diese Weise locker drin.
Wenn ich mich jetzt im Spiegel anschaue, sehe ich einen völlig anderen Menschen als noch vor einem Monat. Sicher, ich bin nicht jünger geworden, mein Haar ist immer noch dünn und halb ergraut und ich bin alles andere als ein Adonis, aber der Unterschied ist dennoch eklatant. Der Bauch ist fast weg, zumindest hängt er nicht mehr über den Hosenbund, ich habe keine Titten mehr, sondern eine athletisch geformte Männerbrust, meine Oberarme sind sauber definiert und mein Gesicht hat wieder Kanten. Es sind aber nicht nur Äußerlichkeiten, die mein Abbild so verändern. Da ist auch ein gewisses Strahlen in meinem Gesicht, ein Selbstvertrauen in meiner Haltung, das ich lange nicht mehr gespürt habe. Es fühlt sich gut an. »Mach weiter so«, sage ich zu mir. »Es ist das Richtige.«

Es klingelt. Ich betätige den Summer und warte mit freiem Oberkörper an der Wohnungstür. Es ist mein Bruder, der sich mit einem schweren Einkaufsbeutel die Treppe hochschleppt.
»Alter Schwede, wie siehst Du denn aus, Junge!«
»Sport, mein Freund. Komm rein. Schön, dich zu sehen.«
Er grabscht mir mit seiner freien Hand an die Brust und pfeift, als er sich an mir vorbei ins Wohnzimmer drängelt.
»Was ist denn hier passiert! Wo ist die Glotze hin!«
»Das ist alles im Keller. Ich hab mein Leben komplett umgekrempelt.«
»Erzähl keinen Scheiß, du verarschst mich doch!«
»Nein, ehrlich. Seit vier Wochen nur noch Sport, Bewegung, gesunde Ernährung und keinerlei Ablenkung mehr.«
»...«
»Setz dich doch. Was ist in dem Beutel?«
»Das ist von meinen Jungs. Mit den besten Grüßen.«
Ich öffne den Beutel. Es sind zwei Six-Packs Corona. Ach du Scheiße. Ich schaue meinen Bruder an.
»Sie fanden´s lustig.«
»Ich find geht so«
»Komm schon. Ist zwar ´ne miese Plörre, aber besser als nichts.«
Er nimmt sich zwei Flaschen, öffnet sie mit einem Feuerzeug und reicht mir eine rüber. Ich habe seit vier Wochen keinen Alkohol mehr getrunken, mich gesund ernährt und auf meinen Körper geachtet. Ich denke, eine Belohnung wäre angebracht. Ich nehme die Flasche und stoße mit meinem Bruder an. Auf das Leben, auf diesen seltsamen Frühling und darauf, dass alles besser wird. Beim ersten Schluck schon merke ich, dass ich einen Fehler begangen habe. Ich kann die Flasche nicht mehr vom Mund nehmen, ich trinke, schlucke, saufe ohne Pause, bis das verdammte Ding alle ist. Ich nehme mir die nächste Flasche, schlage den Kronkorken am Fensterbrett ab und setze an. Ein Bier nach dem anderen läuft meine Kehle hinab, mein Bruder starrt mich mit großen Augen an und ich merke, wie mein Körper nachgibt. Mein Bauch weitet sich, aus meiner Brust wachsen zwei Hängetitten und die Muskeln an dem Arm, mit dem ich die Flasche halte, werden weich und hängen herab wie Schmelzkäse. Innerhalb von zehn Minuten leere ich alle Flaschen, auch die meines Bruders, der vor lauter Fassungslosigkeit keinen Schluck davon getrunken hat. Es ist zum Heulen; ich sehe wieder aus, wie vorher! Jetzt hoffe ich auf eine Erweiterung der Vorsichtsmaßnahmen, auf weitere vier Wochen Rufbereitschaft. Das kann es noch nicht gewesen sein, ich muss es wieder schaffen. Aber ich diesmal werde mich in Acht nehmen. Was Corona geschaffen hat, darf Corona nicht wieder zerstören.

Eine Kooperationsarbeit des Literaturhaus Rostock e.V. mit dem Kempowski Archiv Rostock e.V.