„Uns geht's ja noch gold“

Das Rostocker digitale Tagebuch

Die goldenen fünf Tage

Als ich die Lange Straße auf dem Fahrrad entlang fuhr, da blieb ich stehen und schaute auf mein Telefon, um mich zu vergewissern. Es war Montag früh um 07:16 Uhr. Bis hierhin hatte ich wohl alles richtig gemacht. Ich schaute mich um und sah ein paar Tauben auf der Kreuzung frühstücken. Ein zweiter Blick aufs Telefon verriet mir, es war immer noch Montag. Und ich immer noch allein auf der Straße. Abgesehen von den Tauben, die sich nicht stören ließen. Wo waren nur all die beschäftigten Leute? Warum sah ich keine Autos? Ich musste an meinen Schwager denken, der sagte mal: „In Berlin rennen alle rum und niemand hat was zu tun“.
Ich frage mich wie es dort gerade aussehen mag. Vielleicht noch mehr Tauben, aber sonst?
Was ist nur los heute Morgen… Ach so, da war ja was. Gestern Abend kam doch was in den Nachrichten. RKI und Drosten, Virologen sind die neuen Politiker, LIDL verkauft 14 Mio. Atemschutzmasken im 50er Pack zum Selbstkostenpreis und wenn ich Kinder hätte, dann hätte ich ein Problem. Deshalb hab ich also freie Fahrt mit meinen Rad, auf dem Weg in die Tischlerei. Ich bin nämlich Tischler. Zum Glück darf ich weiterhin arbeiten.
Was würde ich nur machen, dürfte ich nicht an diesen goldenen fünf Tagen in der Woche denselben Weg fahren, um mit sechs weiteren Personen täglich sieben bis neun Stunden lang Dinge herzustellen, die man sich hinstellen kann. Ich wüsste überhaupt nichts mit mir anzufangen.
Ein Kollege von mir arbeitet Teilzeit. Was macht der bloß den ganzen Tag? Fährt der dann auch Fahrrad? Geht der in die Bibliothek oder besucht Volkshochschul-Kurse und lernt Töpfern? Macht der Karate und trainiert gerade für seine Schwarzgurt-Prüfung? Nimmt der an Kräuterwanderungen teil und baut sich dann Hochbeete im Gemeinschaftsgarten? Das ist doch alles nichts. Nichts Solides ist das jedenfalls. Kann ich davon in den Urlaub fahren oder zu Saturn gehen und mir diesen geilen Dyson-Staubsauger kaufen? Wohl eher nicht! Das blieben dann alles Luftschlösser. Wie gesagt, nichts für mich.
Auf meinem Fahrrad klebt ein langer und gut sichtbarer Aufkleber, darauf steht: „Ist das System relevant?“ Den fand ich ganz witzig und er passt perfekt zu dem satt lackierten Rot des Rahmens. Mit diesem Rahmen bildet eine Kombination aus Rädern, Zahnrädern und Kette das perfekt konstruierte Gefährt.
Ist auch egal, weiter geht’s. Ich trete in die Pedale und werde schneller. Ein Gefühl aus Kraft und Stolz steigt in mir auf und fährt mit mir davon.

Eine Kooperationsarbeit des Literaturhaus Rostock e.V. mit dem Kempowski Archiv Rostock e.V.