„Uns geht's ja noch gold“

Das Rostocker digitale Tagebuch

Das Corona- Märchen

In der schönen Stadt Rostock an der Mündung des Flusses Warnow lebte ein kleines Mädchen. Es war ein trauriges kleines Mädchen, denn seine Eltern hatten kaum Zeit für ihr  Töchterchen, weil sie immer sehr viel und sehr lange sehr, sehr wichtige Arbeit zu verrichten hatten. Zum Glück hatte das kleine Mädchen in ihrer Schulklasse eine Freundin gefunden, mit der es gemeinsam nach Schulschluss viel Spaß hatte, aber auch die Hausaufgaben erledigten sie zusammen und sogar bei ihren häuslichen Pflichten wie kleinen Einkäufen, dem Putzen von Bad und Küche und dem Staubwischen halfen sie sich gegenseitig.

Das kleine Mädchen hatte am 8. März seinen 10. Geburtstag. Weil die Eltern dem kleinen Mädchen nun eine besondere Freude bereiten wollten, auch ein bisschen aus schlechtem Gewissen, weil sie sich so wenig um ihre Tochter kümmern konnten, erlaubten sie ihr, ein ganz großes Geburtstagsfest zu feiern, und sie dürfte auch sechs Gäste einladen, ganz egal, wen sie wollte!

Das kleine Mädchen überlegte eine Weile, und dann schrieb sie auf ein  blütenweißes Blatt Briefpapier eine Einladung zu ihrer Geburtstagsfeier an ihre Tanten aus dem schönen Italien.

Sie hatte sieben Tanten (Schwestern ihrer Mutter), die sie nur ein einziges Mal gesehen hatte, und zwar bei der Trauerfeier ihrer italienischen Großeltern, die bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren. Diese Tanten hatten mit ihrer geheimnisvollen Art das kleine Mädchen sehr beeindruckt. Sie machten einen fast unwirklichen, märchenhaften Eindruck, trugen lange, wallende Kleider aus buntglänzenden Stoffen, glitzernde Ketten und Armreifen und boten sogar damals auf der Beerdigung einen tröstlichen, munteren Anblick. Die Mutter konnte aber diese Schwestern nicht gut leiden, denn abgesehen von unendlichen Erbstreitigkeiten hatten sie sehr unterschiedliche Auffassungen vom Leben und ihren Lebensweisen.

Die Schwestern wohnten noch alle unverheiratet zusammen in ihrem Elternhaus auf einem einsamen Dorf in der Toskana und lebten hautsächlich vom Verkauf ihrer Landprodukte oder, weil sie alle künstlerische Talente besaßen, von ihrer Kunst. Die älteste Schwester malte wunderschöne Blumenbilder und verkaufte sie. Auf großen Kunstausstellungen hatte sie schon einige Bilder präsentiert und gut verkaufen können. Die zweitälteste  Schwester hatte einen Brennofen am Haus und fertigte sehr filigrane Keramikfiguren und Gefäße, auch die fanden viele Abnehmer. Gerne verkaufte sie auf Jahrmärkten und Volksfesten ihre Töpferwaren. Das bunte Treiben und die fröhlichen Menschen gefielen ihr sehr.  Die dritte Schwester wiederum hatte sich der Kleinkunst verschrieben: sie hatte eine Puppenbühne, mit deren Aufführungen sie in den Nachbarorten die kleinen und größeren Kinder begeisterte. Die vierte Schwester konnte wundervoll singen, sie hatte eine glasklare, helle Stimme. Sie liebte Tiere, und besonders Vögel sehr und sang manchmal gemeinsam mit Amseln, Lerchen oder anderen Singvögeln zauberhafte Melodien. In Italien ist die Sangeskunst sehr hoch geachtet. Ihren Lebensunterhalt erwirtschaftete sie aber mit dem Verkauf der Hühnereier, denn sie hatte auch einen großen Hühnerhof. Außerdem hielt sie noch ein paar Schafe mit niedlichen Lämmchen, im nahegelegenen klaren Teich schwammen immer Fische, und um das Kätzchen und den alten gutmütigen Hund kümmerte sie sich auch. Außerdem bewirtschaftete sie einige Bienenstöcke. Den Honig und die Eier konnte auch die fünfte Schwester gut gebrauchen, denn sie war die Köchin der schwesterlichen Wohngemeinschaft. Sie hatte eine große Begabung für das Kochen und Backen, zauberte die appetitlichsten Gerichte aus den Produkten, die sie in ihrem Hausgarten und dem kleinen Acker angebaut hatte. Auch Obst und Gemüse gediehen prächtig in ihrem Gärtchen. Ganz besonders stolz war sie auf ihre Blumen, die vor dem Haus wuchsen- Geranien, Tulpen, Rosen, Margeriten, was das Herz begehrte. Aber es wuchsen dort auch herrliche Orangen, -Zitronen und Olivenbäume. Diese Blumen und Früchte waren beliebte Motive für die Gemälde ihrer ältesten Schwester.

Die sechste Schwester sorgte sich um die Wäsche. Weil sie aber auch ein künstlerisches Talent hatte, fertigte sie selbst Kleidungsstücke an, für sich selbst und ihre Schwestern- ganz besondere, wundervolle bezaubernd schöne zarte Gewänder. Manchmal verkaufte sie auch einige davon und in der nahen Stadt gab es eine Boutique, in der ihre Modelle reißenden Absatz fanden.

Die zweitjüngste, die siebte Tante des kleinen Mädchens (ihre Mutter selbst war die jüngste der Schwestern) hatte ein Schreibtalent. Sie schrieb Gedichte, Kurzgeschichten und Romane, hatte sogar schon einige Drehbücher für Filme und das italienische Fernsehen verfasst. Allerdings hatte sie leider nicht viel Humor; in ihren Geschichten ging es daher immer sehr ernst und traurig zu. Trotzdem war sie schon sehr berühmt und hatte gutes Geld verdient, wovon auch die anderen Schwestern etwas abbekamen. Diese Schwester hatte außerdem sehr starke mentale Kräfte, man kann beinahe sagen, sie verfügte über die Fähigkeit, andere Menschen krank zu machen. Diese Schwester war eher etwas unbeliebt bei den anderen, denn sie war auch ein bisschen streitsüchtig, rechthaberisch und zänkisch. Das bereitete ihren freundlichen Mitbewohnerinnen mitunter schon heftige Kopf- und Magenschmerzen, und die eine oder andere bekam einen dicken Hals  oder es blieb ihr die Luft weg vor Ärger. Manchmal war der Streit so hitzig, dass die besonders zartfühlige vierte Schwester Fieber bekam. Die Italiener sind ja meistens sehr temperamentvoll, da geht es mitunter sehr hitzig zu.

Diese geheimnisvollen Tanten wollte das kleine Mädchen so gerne wiedersehen. Sie hatte sogar oft von ihnen geträumt. Aber ihre Eltern waren immer dagegen gewesen, denn die Tanten waren ihnen zu ungewöhnlich, und ein Besuch bei oder von ihnen passte außerdem  nicht in den engen Zeitplan der Familie. Nun nutzte das kleine Mädchen die Chance, einzuladen, wen sie wollte, um diese wunderbaren Tanten auszuwählen.

Als ihre Eltern von ihrer Wahl erfuhren, waren sie ganz und gar nicht begeistert. Aber sie hatten es ihr ganz, ganz fest versprochen, nun mussten sie zu ihrem Wort stehen. Ein wenig beruhigt waren sie erst, als der Antwortbrief der Tanten kam und die siebte, zänkische Schwester ausrichten ließ, dass sie wahrscheinlich keine Zeit hätte und nicht mitkommen würde. 

Am 8. März, einem Sonntag, wurde zum Nachmittag eine festliche Kaffeetafel mit Blumenschmuck und Kerzen gedeckt. Das von den Großeltern geerbte Goldrand-Service mit den sechs unterschiedlich gestalteten festlichen Gedecken wurde extra für die Tanten auf den Tisch gestellt. Zur Feier des Tages hatte sogar die Mutter Kuchen und Torten selbst gebacken. Eigentlich war auch die Mutter des kleinen Mädchens sehr talentiert, und zwar lag ihre Begabung in der Herstellung der allerfeinsten und delikatesten Gebäcke. Nur hatte sie diese Kunst nie in ihrer kleinen Familie angewandt, denn es musste alles immer ganz, ganz schnell und eilig gehen. Pünktlich um drei, zur vereinbarten Zeit, klingelte es an der Tür und in einer Duftwolke erschienen die charmanten Tanten, in Samt und rauschende Seide gekleidet,  um dem Geburtstagskind zu gratulieren. Das kleine Mädchen war so aufgeregt!

Die Tanten waren zum ersten Mal bei ihrer Schwester und deren Familie in Deutschland. Sie waren mit dem Flugzeug gekommen und es gefiel ihnen sehr, was sie hier bisher gesehen hatten. Ihr Hotel lag direkt an der Ostseeküste, und im Vergleich zu ihrer toskanischen Heimat war die Landschaft hier nicht weniger schön, nur etwas kühler und herber. Gerne ließen sie sich hereinbitten und wollten an der Kaffeetafel Platz nehmen. Nur stellte sich plötzlich heraus, dass ein Gedeck fehlte! Die zänkische siebte Schwester war unerwartet nun doch mitgekommen und fand keinen vorbereiteten Platz. Beleidigt setzte sie sich in eine Ecke des Zimmers und sprach fortan kein Wort mehr, ließ sich auch nicht dazu bewegen, von einem eilig dazugestellten Gedeck zu essen.

Die anderen kamen aber bald in ein eifriges Gespräch, zweisprachig, mit Händen und Füßen gestikulierend, denn die Italienerinnen konnten kaum Deutsch sprechen und das kleine Mädchen und ihr Vater kein Italienisch. Die Mutter versuchte zu dolmetschen. Es wurde eine sehr fröhliche Geburtstagsrunde und die köstlichen Gebäcke der Mutter schmeckten allen wunderbar. Als alle gesättigt waren, meldete sich die älteste Tante zu Wort, und die Mutter übersetzte: „Liebes kleines Geburtstagskind! Wir freuen uns sehr, dass Du uns eingeladen hast und wir uns nach langer Zeit wiedergetroffen haben. Wir wünschen Dir alles, alles Gute. Deine Mutter hatte uns gesagt, dass Du oft traurig bist, weil Deine Eltern nicht viel Zeit für Dich haben. Um Dich wieder fröhlich zu machen und weil Du uns mit der Einladung auch eine so große Freude bereitet hast, möchte jede von uns Dir einen großen Wunsch erfüllen. Sprich nur aus, was Du gerne möchtest!“

Da bekam das kleine Mädchen leuchtende Augen und sagte: „In der Schule habe ich so viel von berühmten Kunstmalern gehört, die Gemälde in wunderschönen Farben gemalt haben. Ich würde mir so gerne einmal eine Gemäldegalerie ansehen!“ Da lächelte die älteste der Tanten und sagte: “ Diesen Wunsch kann ich Dir sehr gerne erfüllen. Ich bin ja selbst Kunstmalerin und werde Dich gerne durch eine schöne Kunstausstellung führen“.

Die zweitälteste Tante meldete sich:“ Was wünschst Du Dir denn noch?“ Das kleine Mädchen überlegte nicht lange:“ Ich würde so gerne auf den Ostermarkt gehen- Zuckerwatte und Waffeln essen, mit dem Riesenrad fahren, ein paar Lose kaufen…“ „Da bist Du bei mir genau richtig“, sagte die Tante, “ ich kenne mich auf den Rummeln und Jahrmärkten bestens aus von meinen Keramikständen, da gehe ich mit großer Freude mit Dir auf den Ostermarkt.“

Der Wunsch an die dritte Tante lautete “ Ich möchte mir so sehr, sehr gerne einmal im großen Kino einen lustigen Animationsfilm angucken. Eine Kinovorstellung mit Cola und Popcorn, allem was dazugehört! Es wäre zu schön, wenn jemand mit mir dahin ginge!“  „Sehr gerne, es sind zwar keine Puppen, die dort auftreten wie in meinem Puppentheater, aber zu einem lustigen  Kinobesuch komme ich gerne mit!“

Der nächste Wunsch war bei der tierleben Tante genau richtig „Ich war schon soo lange nicht mehr im Zoo! Dabei gehe ich so gerne dorthin und sehe mir die Tiere an!“ „Oh ja, da begleite ich Dich gerne! Ich bin sehr gespannt, wie Euer Zoo aussieht! Bis nach Italien ist sein Ruhm gedrungen, das Polarium und das Darwineum sollen ganz toll sein!“

Die nächste Tante war mit Wünsche-erfüllen dran: „Na, Du kleines trauriges Mädchen, was wünschst Du Dir denn noch?“ „ Gehst Du mit mir vielleicht einmal ganz schön zum Essen aus? Ich mag so gerne Hamburger und Fritten, oder Pizza…“. Die Superköchin unter den Schwestern lächelte: „Als Italienerin würde ich Dir eher Pizza oder Pasta empfehlen. Ja klar, da suchen wir beide uns ein ganz schönes Restaurant aus!“

Nun fragte noch die sechste Tante, was das kleine Mädchen sich wünschte. „Einfach mal tolle Sachen shoppen gehen, und meine Freundin sollte auch mitkommen, das fände ich sooo schön!“ Die Modeexpertin hatte selber Lust, sich in dieser Stadt einmal die Bummelmeile mit ihren Boutiquen anzusehen und sagte ihr gerne die Erfüllung dieses Wunsches zu.

Die Wünsche sollten alle in der Woche vom 13. Bis 19. April, also in der Woche nach Ostern, erfüllt werden. Am Montag Ostermarkt, am Dienstag Kinobesuch, am Mittwoch Zoo, am Donnerstag Shoppingtour , am Freitag ins Kunstmuseum und am Samstag als Krönung der Besuch der Pizzeria. Das war abgemacht. Die Tanten mussten nach der Geburtstagsfeier wieder in die Toskana zurückfliegen, wollten aber zu Ostern wiederkommen. Das traurige kleine Mädchen war so glücklich vor Vorfreude, dass es ein paar kleine Tränchen weinte, allerdings diesmal vor Freude. Sie konnte die Osterwoche gar nicht erwarten…

Leider hatte niemand damit gerechnet, dass auch die siebte Tante noch einen Wunsch für das kleine Mädchen übrighatte. Aus Gnatz und Ärger, weil sie sich nicht  angemessen empfangen und bewirtet gefühlt hatte, nahm sie alle ihre mentalen Kräfte zusammen und sagte in die fröhliche Runde: „So, das habt ihr euch schön ausgedacht! Ich werde aber dafür sorgen, dass keines eurer Geschenke eingelöst werden kann: So wahr ich CORONA heiße, fallen diese Ostervergnügungen definitiv aus! Kein Kino, keine Ausstellungen, kein Ostermarkt, kein Shoppen, kein Zoo, keine Pizzeria! Du brauchst auch gar nicht in die Schule zu gehen, um deiner Freundin dein Leid zu klagen, denn es werden auch die Schulen gesperrt sein und treffen darfst du dich auch nicht mit deiner Freundin. Zum Ausgleich werden aber deine Eltern wochenlang bei dir zuhause sein und ganz viel Zeit mit dir verbringen.“

Mit diesen Worten drehte Corona sich um und verschwand.

Die anderen Tanten waren sprachlos. Nun hatten sich die Schwestern gerade wieder zusammengefunden und freuten sich auf eine gemeinsame Osterzeit, und mit einem Mal hatte ihre gnatzige Schwester alles zunichte gemacht.

Da stand die Mutter des kleinen Mädchens auf und sagte: „ Wenn auch Corona alle unsere Pläne und Freuden über den Haufen geworfen hat, wir lassen uns von ihr nicht unterkriegen. Vielleicht hat sie sogar Recht, dass wir uns mit unserem kleinen traurigen Mädchen wieder intensiver beschäftigen sollten. Wir haben ja noch unsere alten Spiele aus unserer Kinderzeit auf dem Dachboden, die könnten wir hervorholen und wieder zusammen spielen. Wir könnten mehr lesen, schöne Musik hören und zuhause gemeinsam lustige Filme ansehen. Unsere kleine Tochter malt so gerne, da können wir vielleicht auch gemeinsam mit ihr etwas Hübsches malen.“ „Und ich werde uns zum Mittagessen immer etwas ganz Besonderes kochen, ihr beiden dürft euch gerne etwas wünschen“, sagte der Vater, „Und abends spiele ich euch auf meiner Gitarre, die schon lange auf ihren Einsatz wartet, etwas Schönes vor. Wenn die Schulen geschlossen sind, muss ja unser kleines Mädchen trotzdem weiter Lesen, Schreiben und Rechnen lernen.  Wir wollen mal sehen, wer von uns beiden der bessere Lehrer sein wird…“

Die sechs Tanten des kleinen Mädchens verabschiedeten sich nun auch und versprachen, wenn Coronas Spuk vorbei ist, die ganze Familie in die Toskana einzuladen. Dann soll es ein großes Fest geben, und die böse Tante Corona wird in Quarantäne weggesperrt und muss auf ewig einen Mundschutz tragen, damit sie ihre giftigen Wünsche nicht mehr aussprechen kann.

P.S. Unbestätigen Gerüchten zufolge soll sie schon wieder an einem Drehbuch arbeiten für einen Horrorfilm über ein gruseliges Virus, das die ganze Welt anfällt…

Eine Kooperationsarbeit des Literaturhaus Rostock e.V. mit dem Kempowski Archiv Rostock e.V.