Heute erwischte ich mich dabei, wie ich einem Freund zur Begrüßung die Hand hinstreckte.
Ich war die Straße zum Bäcker hinuntergegangen. Zwischen den parkenden Autos und der Vorgartenhecke teilte ich mit niemandem den Weg. Ich hatte nichts Besonderes im Sinn und zählte die Autos nach ihren Farben ab. Seit Ostern hatte sich ihre Reihenfolge nicht mehr verändert. Erst die beiden grauen, dann ein schwarzes und ein weißes. Das rote danach mochte ich besonders gerne, auch wenn sich die Frühlingspollen langsam als matter Film darüberlegten. Bald würde es auch stumpf und grau sein. Danach wieder ein schwarzes und ein weißes Auto, an der Ecke das blaue mit dem Leipziger Kennzeichen. Das stand schon vor Ostern dort.
Ich mied dabei alle gebrochenen Gehwegplatten. Das Spiel hatte mir mein Sohn beigebracht. Manchmal sprang ich über drei Platten, mal machte ich einen Ausfallschritt nach rechts, um dann wieder nach vorne zu hechten. In den ersten Tagen hatte ich mich noch umgeschaut. Vielleicht würde jemand denken, ich wäre betrunken. Aber es war niemand zu sehen gewesen. Ich war alleine. Mittlerweile drehte ich mich nicht mehr um.
Ich grüßte den Wackel-Elvis im blauen Leipziger und schlug den Weg vor der Kreuzung hart rechts ein. Das Versicherungsbüro an der Ecke hatte das Schild Wir begrüßen Sie auch ohne Handschlag freundlich schon vor der Sache in der Eingangstür hängen gehabt. Darunter hing jetzt das Schild Geschlossen. Auch das blich langsam aus.
Ich zwinkerte meinem Spiegelbild in der Scheibe zu und suchte nach der nächsten Gehwegplatte ohne Risse.
„Moin Tatze!“
Vor mir stand Jonas. Weiße Sneaker, Jeans, Kapuzenpulli, Drei-Tage-Bart, schwarzes Käppi. Jonas.
„Mensch Jonas! Wo kommst du denn her?“
Und dann tat ich es: Ich dachte nicht darüber nach, Jonas war wie aus dem Nichts um die Ecke gekommen, ich hatte gar keine Zeit nachzudenken, ich tat es einfach. Ich wusste nicht warum: Ich streckte ihm einfach zur Begrüßung die Hand hin – und erschrak.
Jonas Blick wanderte an mir hinunter. Augen, Drei-Wochen-Bart, Jackenärmel, meine Hand. Mein Blick folgte seinem. So standen wir uns gegenüber und beobachteten meine Hand. War es Trotz, Schreck, Gewohnheit? Sie hielt stand.
Dann sah er mir in die Augen – und griff zu. Er schüttelte meine Hand wie damals, als ich aus den Niederlanden wiederkam. Drei Monate war ich fort. Den ganzen Sommer. Eine Ewigkeit.
Jetzt war ich wieder zuhause. Mit der Brötchentüte stand ich am Fenster und sah die leere Straße hinunter. Ich bereute nichts. Ich fragte mich nur eins: Hatte Jonas seine Hände vorher oder nachher desinfiziert?