„Uns geht's ja noch gold“

Das Rostocker digitale Tagebuch

Shutdown, Lockdown und Xavier Naidoo

Jede und jeder kennt es vermutlich. Die einen mehr, die anderen weniger: eine Abfuhr von seinem Schwarm bekommen. Doch bei wie vielen Leuten ist anschließend eine weltweite Pandemie, inklusive Shutdown, Lockdown und Xavier Naidoo ausgebrochen? Nein, kein Ablenken mehr, indem man sich mit seinen Freunden betrinkt. Keine Frust-Partys, die weinend und kotzend gleichzeitig enden. Und auch Tinder ist durch das Kontaktverbot irgendwie nicht cool (wobei, war es das je?). Corona konfrontiert mich plötzlich mit einem meiner größten Feinde: meinen eigenen Gefühlen. Ich bin gezwungen in meiner Wohnung zu sitzen und über mich nachzudenken - und dabei gleichzeitig zu wissen, dass es doch Menschen gibt, denen es viel schlechter geht. So z.B. auf Lesbos, wo in unmenschlichen Verhältnissen gelebt und gestorben wird. Und ich sitze hier in Rostock und jammere über meine Gefühle. „Was ist denn eigentlich dein Problem?“ - frage ich mich in solchen Momenten. Doch leider ist der Verstand nich immer der stärkere Part im Körper. Denn da ist es wieder - das böse Gefühl. Und dem ist es egal, ob es mir ja eigentlich vergleichsweise gut geht. Das Gefühl sagt mir, mir soll es jetzt schlecht gehen. Und es legt noch einen drauf. Ablenken geht jetzt nicht mehr so gut wie vorher und dadurch geht es mir gleich nochmal schlechter. Bin ich also gezwungen alleine im Selbstmitleid zu versinken? Ich nehme die Herausforderung an und tue etwas Verrücktes. Ich denke mal wirklich über mich und meine Gefühle nach. So ganz ohne Alkohol, so ganz ohne dämliche Kurzschlussreaktionen. Das tut gut, doch das böse Gefühl will immer noch nicht so ganz verschwinden. Mir kommt plötzlich eine Idee. Eine Wahnsinnsidee, die ich vor Corona nur sporadisch gehabt habe und die nun ihre ganzen Qualitäten offenbart. Sie nennt sich „Spazierengehen“ und funktioniert am besten in Kombination mit Freunden (natürlich nur jeweils im Singular). In meiner ganzen Verzweiflung antworte ich jetzt nicht mehr nur mit „gut“ auf die Frage „Wie geht es dir?“, weil man ja eigentlich eh noch was anderes vorhatte. Nein, der Spaziergang zu Corona-Zeiten ist dafür da, sich intensiv auszutauschen und so soziale Interaktion nachzuholen. Ich rede über meine Gefühle - also WIRKLICH über meine Gefühle. Mir wird zugehört, ich erhalte Ratschläge und dann erfahre auch ich etwas über die Gefühle meiner Freunde. Und plötzlich merke ich, dass ich sie nun besser kenne als zuvor. Mir geht es plötzlich wieder gut. Musste da wirklich erst eine Pandemie kommen, um zu erkennen, was eigentlich das Wesentliche ist und wie man sich selbst wirklich helfen kann? Offenbar schon. In all dem Chaos, welches dieses Virus hervorruft, versteckt sich dann eben doch die eine oder andere Chance. Und diese Chance sollte genutzt werden. Nicht nur, um daraus für die Zukunft zu lernen, sondern auch, um durch diese Zeit zu kommen. Denn alle tragen gerade ihr eigenes Schicksal und ihre eigenen kleineren oder größeren Probleme umher. So sind wir in unserer sozialen Distanz doch gleichzeitig darauf angewiesen, mehr Nähe und Umsicht als zuvor zu zeigen.

Eine Kooperationsarbeit des Literaturhaus Rostock e.V. mit dem Kempowski Archiv Rostock e.V.