„Uns geht's ja noch gold“

Das Rostocker digitale Tagebuch

29. April 2020

11.36 Uhr erreiche ich endlich telefonisch meinen schwerhörigen, großen Bruder. Freitags ist unser gemeinsamer Wocheneinkaufstag. Dann fahre ich ans andere Ende der Stadt und mit ihm zum nächsten Netto. Doch dieser Freitag ist Maifeiertag, also müssen wir schon Donnerstag fahren. Einmal konnte ich ihn davon abhalten mitzukommen, doch dieser Einkauf ist nunmal eine der wenigen Kontaktmöglichkeiten für den 88-jährigen, die will er auch wahrnehmen. Ich konnte uns schon Mundschutzmasken vom Apotheker zu 2,50 Euro besorgen. Sicherheitshalber noch 2 zu 6,00 Euro von einer Schneiderin. Die Anprobe zu Hause nahm mir aber gleich die Luft. Das war rausgeschmissenes Geld. Der Apothekermundschutz ließ mich hingegen einmal anstandslos durch die Kaufhalle. Bei der nächsten Anprobe hatte ich schon ein Gummiende in der Hand. Bei näherer Betrachtung der Befestigungsstellen war klar, dass so auch bald alle Gummis enden würden. Im telefonischen Gedankenaustausch mit meiner Schwester hatten schon Damentaschentücher unser Selbstschutzinteresse geweckt. Während ich zunächst alle Gummienden des Mundschutzes durch kleine Löcher knotete, begann meine ordentliche und fleißige Schwester bereits aus den Leinentaschentüchern  nach dem Vorbild der Schutzmasken aus der Apotheke eigene Schutzmasken zu schneidern und für ihre Familie faltenrein zu bügeln. Dieser Typ Mensch bin ich nicht. Schneidern dauert mir zu lange, das Bügeleisen ist bei mir ein Synonym für Rückenschmerzen. Davon habe ich auch so genug. Und Perfektion ist bei mir Fehlanzeige. Abgesehen davon, dass die Mundschutzpflicht zu diesem Zeitpunkt im fast menschenleeren Meckpom ein reines Ärgernis ist. Hat unser OB nicht gerade Rostock als coronafrei vermeldet? Als es Not tat, gab es keine Pflicht mangels Mundschutzangebots. Wat sall dat nu? Je nun, wegen der drastischen Strafen musste ich mir was einfallen lassen. Und - was soll ich sagen - mir fiel was ein. Ich nahm eines meiner seit 40 oder 50 Jahre auf ihren Einsatz wartenden Damentaschentücher, fügte ihm 2 Löcher im Mittelkniff an den Kanten zu, zog 2 Schleifen Schlüpfergummi durch und verknotete sie. Fertig war mein Mundschutzersatz. Kam auch schon erfolgreich zum Einsatz, als ich den Apothekerschutz vergessen hatte. Führe aber meist beide bei mir mit.  Nun also mein Bruder. Der will die Gummienden seiner Apothekermaske mit Sekundenkleber befestigen. Als er gestern an der Bushaltestelle saß, versagten gleich 2 Gummienden seiner Maske. Er wollte eigentlich zu seiner Bank. Unverrichtet kehrte er nach Hause zurück. Also hole ich jetzt meine alte Taschtüchersammelhülle wieder aus dem Schrank und finde 2 Platzsets aus Linnen. Die eignen sich nach meinem Befinden auch wunderbar als Schutzmaske für meinen Bruder. 2 kleine Löcher in die Ränder der Mittelfalte, 2 Stück Schlüpfergummi rein. Fertig und sitzt ohne Erstickungsanfälle. Ich bin voller Stolz auf meine Idee. Hätte das gern der ganzen Welt mitgeteilt, meine Art von Perfektion. Schiet up Utseihn! Übrigens, der Sekundenkleber hat’s nicht geschafft. Meine Schutzmaske musste schon in den brüderlichen Einsatz.

Eine Kooperationsarbeit des Literaturhaus Rostock e.V. mit dem Kempowski Archiv Rostock e.V.